Endlich

2018-endlich10a

Heike Schmidt | Musica Mobile
endlich

L1104097-1

Foto: Kurt Franz Schönen

Konzertanz-Performance mit Flügel
von und mit Heike Schmidt & Jenny Ribbat
Mido Kawamura Kostüm

Ausgehend von Liedern und Texten entsteht ein Reigen unterschiedlicher
Annäherungen an den Tod. endlich – eine musikalisch-poetische „ars moriendi“.

Gespräch und Austausch im Anschluss an die Vorstellungen
Eintritt frei – Reservierung erbeten an info@feldenkraisundstimme.de

Première
24. September 2018, 19:00 Uhr
Lazarus Hospiz
Bernauer Str. 115, 13355 Berlin (S Nordbahnhof)
im Rahmen der Berliner Hospizwoche

weitere Termine
12. & 13. Oktober 2018, 19:30 Uhr
Bibliothek am Luisenbad
Badstraße 39, 13357 Berlin (U Pankstraße)
im Rahmen der Themenwoche Tod, Trauer, Sterben


Aus dem Programm:

Smog

von Heike Schmidt

In der Nähe in der Gegend des Herzens herrscht Smog. Kein Auto fährt mehr. Die Besucher gehen langsam zu Fuß. Der Zugang zum Zentrum ist gesperrt. Maskierte Polizisten bewachen die Straßensperren. Die Masken, die Atemeingänge schützen, sind bunt bemalt. Man wartet auf ein Wunder. Vor zwei oder mehr Ewigkeiten hat ein vergessenes Ereignis die Luft zerstört. Die modernen Technologien konnten die liebe Lebe-Luft nicht retten. Inzwischen versucht man, sich an alte Bräuche zu erinnern, um das Dunkel und die falschen Farben aus der Luft zu nehmen. Die Schutzmannschaft der Gegend des Herzens hält neugierige Blicke aus anderen Regionen fern: man will vermeiden, dass der Smog sich ausbreitet. Manche Kinder haben schon vor langem gefragt, warum man nicht gemeinsam versuche die flimmernde Stinkwolke wegzupusten. Aber über die Jahre haben sie ihr Fragen vergessen und hüten inzwischen pflichtbewusst das anscheinend immer öfter auftretende Naturereignis, dessen Ursache sich keiner erinnern will. So denken inzwischen alle, dass es ein plötzlich auftretendes Phänomen war. Aber genau weiß es keiner mehr. Einige Unvorsichtige wollen wissen, was es mit der Nähe des Herzens auf sich hat. Immer wieder versuchen Einzelkämpfer, die Grenze zum umstellten Gebiet zu überschreiten. Bisher ist niemand zurückgekommen, dem es gelungen ist, bis dorthin durchzudringen. Aber da niemand mit Sicherheit weiß, ob die Waghalsigen überhaupt jemals angekommen sind oder auf dem Weg dahin an Smog starben, bleiben alle Fragen die Nähe der Gegend des Herzens betreffend offen. Einige haben begonnen aufzuschreiben, wie dieses Land früher mal gewesen sein könnte und wie es vielleicht jetzt ist oder wie es in zwei oder vier Ewigkeiten sein könnte. Und da alle wissen, was niemand wissen kann, lesen alle, ob fern oder nah eifrig die Vorstellungen, die die Herzenswissenschaftler darüber zusammengetragen haben. Kinder schreiben ihre ersten Schulaufsätze über das verlorene von Nebel überdeckte Smog-Reich.
Ein kleines Mädchen von fünf Jahren bekam den Jugend-forscht-Preis für ihre schöne blutrote Zeichnung, die ein Herz mir Umgebung darstellen soll. Sie erklärte ihr Bild wie folgt: sie habe beobachtet, dass der Smognebel seine Form verändert, deshalb ist der Rand des Herzens nicht klar zu erkennen.
Ihr Preis-Herz besteht aus zwei Hälften, die sich fast gleichen. Fast sind sie symmetrisch und blicken sich an, wie ein Teil das andere im Spiegel. Eine der beiden Seiten ist aber etwas stärker, etwas runder. Zwei Punkte haben sie gemeinsam. Am unteren Punkt bilden beide zusammen eine kleine Spitze. Die ist schlank. Nach oben hin bäumt sich sowohl die eine, wie die andere Seite auf. Zusammen bilden sie eine Art Trichter, nur weiblicher. Statt kantigen Ecken, da sind sich die asymmetrischen Körper einig, blähen sie sich von ihrem gemeinsamen Punkt oben auf zu zwei schönen Rundungen, Schnörkeln mit einer Kerbe, die sie trennt und verbindet. Die äußeren formgebenden Linien sind wohl vorhanden aber so alt, dass sie nur verschwommen vom Auge erfasst werden. Sie sind ausgefranst wie alte Münder, aus denen immer noch die fesselndsten schön-traurigen Geschichten erklingen.
Ich habe das Mädchen von damals unlängst getroffen. Ein bisschen Mädchen ist sie immer noch, obwohl ihr Mund inzwischen so fransig ist, wie ihre Vorstellung von dem Gebiet des Herzens, wenn es vom Smog befreit ist.
Erkannt habe ich sie an den kleinen Herzen, die blassrosa um ihre Pupillen ruhen und manchmal, wenn sie erzählt, bluten und funkeln die beiden dunkelrot aus dem Grün ihrer Augen. Dann, wenn sie erzählt, dass ihre Vorstellung Wahrheit war für einige Momente ihrer Lebezeit. Sie hatte den Preis für ihre kindliche Forschung also nicht umsonst erhalten. Ihre Theorie erwies sich zumindest für sie als wahr. Sie erzählte mir, ohne dass ich sie danach fragen musste, wie sich ihre Theorie, die Vorstellung oder Traum oder Wunsch war, in Erleben verwandelte.
Verzweifelt suchte sie bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr an ihrem Heimatort in der Nähe der Gegend des Herzens, den Giftnebel zu besiegen. Besiegt von ihm fühlte sie sich, als sie sich der Suche überdrüssig auf die Reise machte um diesen ersten einzigen Wunsch zu vergessen. Weit von ihrem Heimatort entfernt fand sie, was sie nicht mehr suchte. Sie traf ihn, den geheimen Prinzen Europas, bei dessen Anblick sie lächelte, wie jetzt wenn sie mir davon erzählt. Bei ihrer zweiten Begegnung schon bewohnte er ihr Herz, was zur Folge hatte, dass sich der technische Nebel über der Gegend des Herzens, ihrem Zuhause, verdünnisierte und sich immer, wenn ihre Wesen sich wie ein Stück ans andere schmiegten, völlig verflüchtigte. Müde sagte sie mir, dass das kein Zustand von langer Dauer war. Sie hat ihn oft verwunschen – den Prinzen Europas. Dafür, dass der Nebel, der auf sie, wie auf ihr Land drückte, sie und es kleiner und brüchiger machte, wenn sie sich im Laufschritt voneinander entfernten. Und gleich darauf lächelte sie mich wieder an und das fransige Rot quoll mir wieder aus ihren Augen, den beiden wohl wichtigsten Seen ihres Landes entgegen. Schön, so schön dachte ich mir und langsam kehrte auch in mir Größe und Erinnerung zurück, die mich smoglos machten und leichter für die Zeit, die ich mich meinem Gegenstück aus vergangener oder kommender Zeit widmete. Mein kleines Gegenstück. Mein kleines Gegenstück. Mein kleines Gegenstück – das mich eins macht wie keins zu zweit mit mir allein. Das den Himmel erhellt und seinem Blau Tiefe und den Wolken Duft verleiht: Mein kleines Gegenstück. Mein kleines Gegenstück. Hörst du mich? Wo bist du? Komm – und dann keine Antwort, sagte sie und erzählte von ihren langen einsamen Nächten im Wald. Wie sie gelaufen ist, gerannt im weißen Nebel im Dunkel und die Atemnot. Sie musste sich setzen an den See aus dem der Nebel aufsteigt. Am Morgen dann, wenn die Sonne aufgeht, die zwar nie ganz zu sehen, aber deren Wärme nach einer kalten Dunkelheit deutlich zu spüren ist und deren Strahlen Hoffnung durch einen dichten Schleier auf die Welt fallen lassen, fragte sie sich oft, ob sie hinab tauchen müsste in den See, dass die Nebelquelle erlösche, dass der Himmel wieder frei werde und sie vielleicht dort ihr kleines Gegenstück wieder finde. – Sie habe sich nicht getraut und dann eines Tages ihr kleines Gegenstück zu Grabe getragen. Ihr Prinz tot. Sie beschrieb mit wenigen Worten das Unfassliche, das sie immer befürchtet hatte, und als sie sein Leid sah, sein Sterben fast ersehnte und als das Angemessene hinnahm.
Ich sah einen Riss durch die kleine Person schießen, als ob der Schmerz sie erst jetzt heimsuchte. Sie habe keine Tränen mehr außer dem Regen, sagte sie. Nach Jahren, die sie wie in Blei gegossen verbracht hatte und an die sie keine Erinnerung habe außer dass der Nebel sich verfestigt hatte, so als habe er einen neuen Zustand, eine neue Form gefunden; aus Nebel wurde ein festes Gitter. Man konnte nicht mehr durch ihn hindurch gehen. In ihrer Heimat, der Nähe der Gegend des Herzens, war der Smog zu Stein geworden. Zwar konnte man durch die Freiräume des Gitters klettern, aber niemand wusste mehr weshalb und wohin. Stein hing über ihrem Land. Alle hatten Angst, dass sich der Stein absenke und alles und jeden erdrücke. Aufrecht Gehen verging den Leuten, so stark drückte die Last sie nach unten. Sie wurden kleiner, ihre Knochen verformten sich, bei einigen brachen sie langsam und stauchten sich ineinander. Unter Schmerzen, die keiner genau fassen oder beschreiben konnte, schrumpfte die Bevölkerung der Nähe der Gegend des Herzens zusammen. Wie Kleinwüchsige übten sie nun der Himmelslast über ihren Herzen und Köpfen zu entgehen. Polizisten, die einst das Zentrum bewachten, gab es nicht mehr. Besucher blieben für Jahre aus – es war ihnen zu anstrengend geworden, sich so kauernd oder gekrümmt durch den Ort zu schlängeln, durch das Steingitter zu klettern; denn wohin, und gab es überhaupt einen Weg zurück?

Nach mehreren Begegnungen mit der Alten bekam ich den Auftrag und die damit verbundene Anleitung, ihr Land zu befreien, da sie sonst nicht in Ruhe sterben könne. Und sie wolle doch ein Wiedersehen mit ihrem Gegenstück!

Also erklärte sie mir, ich müsse in die Nähe der Gegend meines Landes, meines Herzens vordringen. Sie gab mir mehrere Aufgaben: allein sitzen in meinem Bett und Zeit vergehen lassen ohne einen Wunsch, ohne ein wenn, ein aber, ein Wetter, einen Traum, ohne einen Gedanken zu fassen. So dass mein Himmel in Bewegung komme.

Und dann solle ich in den Himmel über meine Hauptstadt sehen, an mein und ihr Gegenstück aus vergangener und kommender Zeit denken und die Wolken ziehen lassen – weit – und mit ihnen alles Wünschen und Sehnen, alles Fürchten, jede Angst vorm Verlieren.
Und als mir das endlich – für eine kleine Zeit – gelang, sah ich sie an einem lichten Ort im Wald. Ihre Haut und ihr Gemüt hellten sich auf, und langsam sah ich sie in mir sich zu ihrer eigenen Totenmaske verwandeln. Die war schön, ganz jugendlich – beinahe kindlich sah sie aus, ganz hellblass, nur unter ihren Augenlidern drang zart eine Röte hervor, die mir mitteilte, dass sie angekommen war. Dass sie sich endlich und für endlos an ihn schmiegte wie ein Stück ans andere. Sie hatte also ihr Gegenstück für die kommende Zeit gefunden. Und ich, hier !? Die Ereignisse ließen mich matt in einen seltenen Schlaf sinken; der war Traum und Leben.